Genau, mit zunehmendem Alter wird es immer wahrscheinlicher, dass man Hilfe und Pflege im Alltag braucht. Das kann aber potenziell auch schon in jungen Jahren passieren, etwa durch einen Unfall oder eine unvorhergesehene Erkrankung. Für die Angehörigen sind grundsätzlich zwei Aspekte entscheidend: Erstens Informationen darüber, welche Form von Unterstützung gewünscht wäre. Also, möchte mein:e Angehörige:r zum Beispiel eher, dass eine Pflegekraft nach Hause kommt oder würde er oder sie lieber in eine Wohnform mit Pflege umziehen, etwa eine Pflege-WG? Zweitens ist es wichtig, dass eine Vollmacht vorliegt, die einer oder mehreren Personen aus dem Umkreis auch rechtlich erlaubt, Hilfe zu organisieren. Denn ohne offizielle Erlaubnis darf man für niemand anderen zum Beispiel die Kommunikation mit der Krankenkasse übernehmen oder eine Überweisung tätigen – und sei es noch so dringend nötig und hilfreich.
Wenn Sie noch keine Vollmacht haben, wäre mein Tipp: Lassen Sie sich beraten, etwa bei einem Betreuungsverein, und setzen Sie möglichst bald eine Vollmacht auf. Kostenlose Vordrucke vom Bundesministerium der Justiz oder kostenpflichtige Vorlagen mit Schritt-für-Schritt-Anleitungen von der Stiftung Warentest helfen dabei. Dieser Tipp gilt übrigens nicht nur für Ältere, sondern schon ab der Volljährigkeit.
Das kommt darauf an, wer fragt. Viele Erwachsene, die regelmäßig für ihre Eltern einkaufen oder ihnen bei alltäglichen Kleinigkeiten helfen, sehen sich nicht als Pflegende. Und auch viele Senioren empfinden eine solche Hilfe nicht als Pflegearbeit. Man spricht im Volksmund eher davon, dass wir helfen oder unterstützen. Ob eine solche Unterstützung aber im rechtlichen Sinne schon reicht, um von Pflege zu sprechen, hängt vom Umfang und der Art der Hilfestellungen ab. Wenn eine bestimmte Menge an Hilfe nötig wird und eine geschulte Pflegekraft das im Auftrag der Pflegekasse bestätigt, dann erhält der Mensch, der Hilfe braucht, einen sogenannten Pflegegrad. Und damit gibt es auch Geld von der Pflegeversicherung. Als pflegende:r Angehörige:r im Sinne des Gesetzes gelte ich dann, wenn ich für jemanden mit einem Pflegegrad Unterstützung leiste.
Wenn ich mindestens zehn Stunden pro Woche für eine oder mehrere Personen mit Pflegegrad regelmäßig Hilfe leiste, kann ich mich als pflegende:r Angehörige:r bei der Pflegeversicherung der zu pflegenden Person offiziell registrieren und habe dadurch mehrere Vorteile. Erstens bin ich dadurch kostenfrei unfallversichert. Wenn mir also während der Pflegearbeit etwas passieren sollte, bezahlt die Gesetzliche Unfallversicherung alle nötigen Behandlungen inklusive einer womöglich nötigen Reha-Maßnahme. Zweitens kann ich unter bestimmten Bedingungen zusätzliche Rentenpunkte erhalten. Und drittens erhält die zu pflegende Person auf Antrag Extrageld, wenn ich mal verhindert bin, etwa krank oder im Urlaub, um eine Ersatzhilfskraft zu bezahlen. Auch noch weitere Vorteile sind je nach Situation möglich. Eine Registrierung als pflegende:r Angehörige:r ist daher absolut sinnvoll.
Wenn ich berufstätig bin und plötzlich die Pflege für zum Beispiel meine Mutter organisieren muss, dann sollte ich mir als allererstes etwas Zeit verschaffen. Arbeitnehmer können dafür von heute auf morgen die sogenannte kurzzeitige Arbeitsverhinderung in Anspruch nehmen. Das bedeutet, dass ich bis zu zehn Tage von der Arbeit freigestellt werde, um die Pflege für eine:n nahe:n Angehörige:n zu organisieren. Die zehn Tage gelten pro pflegebedürftiger Person und dürfen auch aufgeteilt werden. Wenn ich beispielsweise mit meinem Bruder zusammen die Hilfe planen will, können wir auch beide je fünf Tage frei nehmen oder eine beliebige andere Aufteilung wählen. Die Arbeitsverhinderung sollte schriftlich beim Arbeitgeber eingehen und darf nicht verweigert werden. Es gibt allerdings nur dann weiterhin das normale Gehalt, wenn es eine entsprechende Betriebsvereinbarung gibt. Ansonsten kann ich bei der Pflegeversicherung meiner:s Angehörigen ein Pflegeunterstützungsgeld für diese Zeit beantragen.
Sobald ich diesen zeitlichen Puffer organisiert habe, sollte ich gemeinsam mit der zu pflegenden Person einen Antrag auf Pflegeleistungen bei ihrer Pflegeversicherung stellen. Bei gesetzlich Versicherten ist diese bei der Krankenkasse angesiedelt. Privatversicherte müssen einen separaten Pflegevertrag haben. Schreiben Sie an die Pflegeversicherung am besten eine Mail, ansonsten geht auch ein Brief, ein Fax oder der Eintrag in ein Online-Formular, mit den Worten: „Hiermit beantrage ich Leistungen aus der Pflegeversicherung“ sowie den persönlichen Daten der pflegebedürftigen Person. Daraufhin meldet sich die Versicherung schriftlich und erklärt die weiteren Schritte. Innerhalb von maximal fünf Wochen, in dringenden Fällen auch schneller, muss sie eine Entscheidung fällen, ob und welcher Pflegegrad anerkannt wird. Davon abhängig gibt es verschiedene Leistungen, die Pflegebedürftige sich individuell zusammenstellen können. Sobald ein Pflegegrad bewilligt wurde, gibt es die Leistungen rückwirkend ab dem Tag der Antragstellung. Deshalb sollte das möglichst früh erledigt werden.
Wichtig ist: Den Antrag muss die pflegebedürftige Person selbst stellen. Ich als Angehörige:r darf das nur dann in Vertretung übernehmen, wenn eine entsprechende Vollmacht vorliegt.
Als drittes empfehle ich, einen Beratungstermin bei einem Pflegestützpunkt oder einer anderen Beratungsstelle auszumachen. Laut Gesetz hat jeder Mensch in Deutschland Anspruch auf eine kostenfreie, neutrale und individuelle Pflegeberatung, wenn er sie braucht. Eine Beratungsstelle in der Nähe finden Sie in der Datenbank des Zentrums für Qualität in der Pflege. Eine Beratung muss innerhalb von zwei Wochen ermöglicht werden, sobald ein Antrag auf Pflegeleistungen gestellt wurde. Die Berater:innen erklären, welche Hilfe die Pflegeversicherung leistet, sie wissen, welche Unterstützung es vor Ort gibt, und sie helfen beim Beantragen der einzelnen Leistungen und weiteren, individuellen Fragen.
Das Pflegeunterstützungsgeld ist nur eine kurzfristige Leistung, die ich erhalten kann, wenn ich bis zu zehn Tage frei nehme, um die Pflege für eine:n nahe:n Angehörige:n zu organisieren. Wer längere Zeit den Arbeitsumfang reduzieren möchte, um Pflege zu leisten, kann dafür unter bestimmten Umständen die sogenannte Pflegezeit oder Familienpflegezeit sowie ein zinsfreies, staatliches Darlehen in Anspruch nehmen.
Bis zu zwei Jahre lang kann ich dann in Teilzeit arbeiten, erhalte eine Ausgleichszahlung und muss diese dann später zurückzahlen. Auch eine vollständige Auszeit ist für einige Monate möglich. Wer sich darüber informieren möchte, kann online unter wege-zur-pflege.de recherchieren, beim Pflegetelefon des Bundes unter 030/2017 9131 anrufen oder eine Mail an info@wege-zur-pflege.de schreiben. Auf der Webseite gibt es auch einen Pflegezeit-Rechner, der dabei hilft, die finanziellen Einbußen einer solchen Zeit zu berechnen.
Im Prinzip ist das die gleiche, teils sehr schwere Entscheidung wie bei der Kinderbetreuung. Es gibt eine Phase im Leben, in der ich entscheiden muss, wie viel Hilfe ich für jemanden leisten möchte und kann und wie viel Unterstützung ich von außen suche. Natürlich ist es insofern anders, als dass Kleinkinder in diese Entscheidung nicht wirklich eingebunden werden, während Vater oder Mutter, wenn sie Pflege brauchen, natürlich so lange wie möglich mitentscheiden sollten, was sie sich wünschen. Außerdem werden Kinder mit der Zeit selbstständiger und pflegebedürftige Angehörige meist eher nicht. Aber die grundsätzliche Entscheidung, wie viel Unterstützung ich leisten kann und will, ist immer eine individuelle. Da kann ich nur dazu raten, wirklich ehrlich zu rechnen und zu überlegen, was im persönlichen Fall welche Auswirkungen hat.
Außerdem wäre mein Tipp, dass sich jede:r die Zeit nehmen sollte zu bedenken: Aus welchen Gründen möchte ich überhaupt Pflege leisten? Insbesondere Frauen neigen oft dazu, nötige Sorge- und Pflegearbeiten selbstverständlich zu übernehmen, weil es so üblich ist. Das ist aber ein schlechter Grund. Wer Pflege leistet und dafür im Beruf kürzertritt, sollte das bewusst und aus guten Gründen entscheiden und mit den Konsequenzen auch gut leben können. Wenn das Verhältnis zu den Eltern eher schwierig ist, wenn ich eigentlich lieber arbeiten möchte oder wenn ich die Gefahr sehe, durch die Pflege mich oder meine eigenen Kinder zu vernachlässigen, wären das zum Beispiel eher Gründe, die Pflege nicht oder nur in geringem Maße selbst zu übernehmen und nach Alternativen zu suchen. Und selbst wenn ich mich dafür entscheide, selbst zu pflegen, sollte ich das möglichst nicht ganz alleine tun. Eine Kombination aus mehreren helfenden Schultern ist immer besser.
Wenn der Gedanke mich belastet und ich nicht weiß, wie ich eine Entscheidung treffen soll, kann ein psychologisches Gespräch helfen. Die Expertinnen von www.pflegen-und-leben.de bieten eine kostenfreie, psychologische Onlineberatung für pflegende Angehörige oder solche, die darüber nachdenken und sich mit der Entscheidung schwertun, an. Auf Wunsch ist die Hilfe anonym möglich.
Kurz gesagt: Ausprobieren.
Etwas ausführlicher: Auch das hängt natürlich vom Einzelfall ab. Was ist der Grund für den Pflegebedarf? Krankheit, Unfall, Altersentwicklungen, Behinderung? Ist das aktuelle Zuhause für die Pflege geeignet oder ließe es sich entsprechend umbauen? Wie ist das soziale Umfeld? Welche Hilfen gibt es in der Umgebung? Was wünscht sich die pflegebedürftige Person? Was wünschen sich die Angehörigen? Gibt es überhaupt Angehörige? Etc.
Wer mindestens Pflegegrad 2 hat, kann über die Kurzzeitpflege die Möglichkeit nutzen, für einige Wochen in ein Pflegeheim zu ziehen, sich den Aufenthalt mitfinanzieren zu lassen und das Leben dort einfach mal auszutesten. Für die meisten Menschen ist das die beste Option, um zu entscheiden. Denn dann kann man über tatsächliche Erlebnisse, Vor- und Nachteile nachdenken und nicht ausschließlich über theoretische Überlegungen und das Hören-Sagen von Dritten.
Mein wichtigster Tipp lautet: Lassen Sie sich helfen! Das gilt sowohl für Pflegebedürftige als auch für die pflegenden Angehörigen. Denn viele hilfsbereite Menschen neigen dazu, alles selbst schaffen zu wollen. Aber niemand von uns sollte alles allein schaffen müssen, denn das macht uns selbst krank. Es gibt ganz viel Unterstützung da draußen. Nutzen Sie sie!
Pflege organisieren, Alltagshilfen finden, Anträge bewältigen
Marina Engler
160 Seiten, BuchFormat: 16,5 x 21,5 cm
ISBN: 978-3-7471-0848-2
22,90 €