Anike Ekina über Social Media, Care-Arbeit und den ganz normalen Wahnsinn
Ich erinnere mich noch ziemlich genau an den Moment, als meine damals 12-jährige Tochter mir mit diesem einen Blick – ihr wisst schon, dieser Mischung aus Genervtheit und Weisheit – sagte: „Mama, du musst nicht alles filmen. Echt nicht.“ Und zack, hatte ich sie, die kleine Erkenntnis mit großer Wirkung. Ich hatte gerade zum dritten Mal in Folge das Familienfrühstück unterbrochen, weil das Licht auf dem Croissant so instagrammable war. Mein Sohn sah nur ein Croissant. Ich sah Content. Aber genau da liegt das Problem: Wenn dein Job als Content Creator aus Social Media besteht, wird das Leben zur Bühne – und du vergisst manchmal, dass du auch einfach mal nur Mensch sein darfst.
Als Anike Ekina ist Social Media mein Beruf. Als Nicole Schönberg bin ich Mutter, Ehefrau, Einkaufserinnerin, emotionale Support-Hotline. Ich bin viele Dinge – gleichzeitig. So ähnlich geht es vielen Frauen, die Familie und Arbeit irgendwie unter einen Hut bringen wollen – der Unterschied zu einem „klassischen“ Job? Wenn ich den Laptop zuklappe, ist nichts vorbei. Wer als Content Creator nachhaltig Erfolg haben möchte, muss a priori einer hohen Arbeitsbelastung standhalten können. Je nach Art des Contents, der Plattform, der Community und den persönlichen Zielen kann das eine tägliche Arbeitszeit von 6 bis 10 Stunden mit sich bringen. Zudem ist der Druck, ständig neue, relevante Inhalte zu liefern, allgegenwärtig. Plattformen belohnen kontinuierliche Aktivität und Trendsetter. Für mich bedeutet das, auch nach „Feierabend“ online zu sein, neue Ideen zu entwickeln und dabei stets relevant zu bleiben. Wer im digitalen Wettbewerb nicht mithält, riskiert, in Vergessenheit zu geraten. Mein Job lebt davon, dass ich immer erreichbar bin. Immer „on“. Immer ein bisschen präsentabel. Was das bedeutet, wenn du parallel zwei Kinder großziehst? Stresslevel: „WLAN ist weg und die Spülmaschine piept.“
Laut der „Creator Burnout Studie 2024“ haben 82 Prozent aller Content Creators bereits Symptome von Burn-out erlebt. Ich finde: Das ist mehr als eine Statistik. Das ist ein Warnsignal. Denn was da mitschwingt, ist: Wir zeigen unser Leben – und verlieren dabei manchmal das Gefühl für unser Leben. Der ständige Vergleich – andere haben bessere Reels, eine schönere Küche –, negative Kommentare („Warum ziehst du dich so an, du hast doch Kinder?“) und der Algorithmus, der dich nach zwei Tagen Pause direkt in die digitale Versenkung schiebt – all das hinterlässt Spuren. Und nicht nur bei einem selbst. Auch die Familie merkt, wenn wir innerlich ständig „auf Sendung“ sind.
Ich habe in letzter Zeit viel von Teresa Bücker gelesen. Eine kluge Frau, die sagt: „Freizeit ist politisch.“ Sie meint damit nicht, dass wir alle Yoga auf dem Bundestagsrasen machen sollen, sondern, dass echte Erholung – wirklich echte Erholung – für viele von uns gar nicht vorgesehen ist. Gerade Mütter sollen bitte effizient entspannen: 20 Minuten Me-Time zwischen Kita-Abholung und Videodreh. Und wehe, du schaltest mal wirklich ab – dann verlierst du Reichweite, Aufträge, Sichtbarkeit.
Ich will keine Plattform bashen, ich lebe ja davon. Ich will auch keine Mitleidskommentare. Was ich wirklich möchte, ist, dass wir anfangen, anders über Arbeit zu sprechen – auch über die Arbeit, die „nebenbei“ passiert, und über die, die nach außen vermeintlich einfach oder spaßig aussieht. Was wir brauchen, ist nicht nur mehr Verständnis füreinander, sondern auch weniger Druck, perfekt zu sein – im realen Leben wie im virtuellen. Momentan liegt mein Arbeitsplatz im Spannungsfeld zwischen äußerer Perfektion und authentischer Selbstpräsentation. „Pretty Privilege“ – die gesellschaftliche und algorithmische Bevorzugung optisch ansprechender Personen – mag anfangs Vorteile bringen. Schönheit allein bietet aber keinen dauerhaften Schutz vor Kritik, Hass und Vergleichen mit anderen. Authentizität hat sich hier in den letzten Jahren als entscheidend für Social-Media-Erfolge herauskristallisiert. Ähnlich wie in der Management- und Leadership-Forschung geht es dabei um das Handeln im Einklang mit eigenen Werten, Transparenz gegenüber der Community und eine moralisch integre Haltung. Creators besitzen zwar die Freiheit, ihre Social-Media-Identität zu gestalten, etwa durch die Kontrolle von Informationen, die sie über sich preisgeben, um eine gewünschte Wahrnehmung zu erzeugen. Gleichzeitig sind die Plattformen jedoch darauf ausgelegt, visuelle und narrative Inhalte zu kuratieren, die bestimmte ästhetische Standards und Erfolgsmuster widerspiegeln. Netzwerke fördern also eine Kultur, die Wahrhaftigkeit in einem stark normierten Rahmen versteht: Eine „authentische“ Darstellung wird oft an Kriterien wie Beliebtheit, Zugänglichkeit und visueller Ästhetik gemessen. An manchen Tagen stehen solche normativen Ideale im krassen Gegensatz zum echten, eigenen Selbst. Und für genau solche Momente wünsche ich mir manchmal einen Button, der sagt: „Heute kein Algorithmus – heute nur Kaffee und Familie.“
Wenn du gerade das Gefühl hast, du musst alles gleichzeitig machen und auch noch hübsch dabei aussehen – atme tief durch. Es ist okay, mal keine Story zu posten. Es ist okay, müde zu sein. Es ist sogar okay, das Croissant einfach aufzuessen, ohne es vorher zu fotografieren. Ich habe das neulich mal gemacht. Meine gesamte Familie hat am Frühstückstisch gegrinst. Und ich musste es auch.
Bildnachweis: Peter Schönberg