„Mein Kind besucht eine Ganztagsbetreuung und als Mutter oder Vater kann ich beruflich wieder voll durchstarten!“ So einfach geht das nicht (mehr). Gravierender Fachkräftemangel in Kitas macht das Betreuungssetting zum Wackelkandidaten. „Wir müssen den Tatsachen ins Auge sehen und alternative Modelle entwickeln, um auch in Zukunft, Kinder gut zu fördern und Eltern ausreichende Freiräume für Berufstätigkeit zu bieten“, sagt Carola Kammerlander, pädagogische Geschäftsführerin im Kita-Trägernetzwerk KONZEPT-E in Stuttgart.
Rund 100.000 zusätzliche Kita-Fachkräfte seien nötig, um den Betreuungsbedarf 2023 zu befriedigen, berechnete die Bertelsmann Stiftung. Problem: Diese Fachleute gibt es nicht. Personal fehlt nicht nur, um die knapp 400.000 neuen Betreuungsplätze bereitzustellen, die 2023 laut Bertelsmann Stiftung nötig sind. Auch wer einen Platz für sein Kind gefunden hat, kann inzwischen nicht mehr sicher sein, dass die Kita den vereinbarten Betreuungsumfang aufrechterhalten kann. Wegen akuten Personalmangels müssen die Träger immer öfter Betreuungszeiten kürzen. Für berufstätige Eltern entsteht damit ein massives Problem. Die schlechte Nachricht: Ein Ende des Engpasses ist nicht in Sicht.
„Als Kita-Träger beschäftigen wir uns seit Jahren intensiv mit dieser Herausforderung und setzen alle Hebel in Bewegung, um Personal für neue Kitas zu finden, möglichst umfassende Betreuungszeiten zu gewährleisten und den Kindern in unseren element-i Kinderhäusern eine hohe pädagogische Qualität zu bieten“, sagt Carola Kammerlander, pädagogische Geschäftsführerin im Kita-Trägernetzwerk KONZEPT-E in Stuttgart. Die Liste der Maßnahmen, die die Pädagogin aufzählt, ist lang: „Wir haben eigene Fachschulen für angehende Erzieherinnen und Erzieher eröffnet, eine neuartige praxisintegrierte, sprich: duale, Ausbildung mit auf den Weg gebracht, Verbände gegründet, um politisch Einfluss zu nehmen, Fachkräfte aus dem Ausland angeworben, viele Quereinsteigende qualifiziert und in den Erzieherinnen- und Erzieherberuf integriert sowie einen Verein für die Randzeitenbetreuung ins Leben gerufen.“ Alle Maßnahmen seien sinnvoll und trügen jeweils etwas dazu bei, die Situation zu entspannen. „Doch wenn wir an einer Stelle ein Loch gestopft haben, reißt woanders ein neues auf“, erklärt die Geschäftsführerin. „Angesichts der Arbeitsmarktzahlen, die uns die Bundesagentur für Arbeit liefert, ist klar: Entwarnung gibt es erst einmal nicht – auch nicht in unserer Branche.“
Carola Kammerlander plädiert daher für Ehrlichkeit: „Wir müssen unser Kinderbetreuungssystem überdenken. So wie bisher funktioniert es im Moment nicht mehr. Fakt ist, dass wir tägliche Öffnungszeiten von zehn oder elf Stunden schon länger nicht mehr anbieten können. Acht bis neun Stunden sind in der Regel machbar, aber auch nicht immer sicher zu gewährleisten“, sagt die Geschäftsführerin. Das heißt auch: Eltern sind bei der Betreuung ihrer Kinder wieder stärker selbst gefragt.“ Also: Frauen zurück an den Herd? „In der Tat kann die aktuelle Situation schleichend zu einer Retraditionalisierung der Rollenbilder führen“ befürchtet Carola Kammerlander. „Daher müssen wir alternative Konzepte entwickeln und den Prozess gut steuern.“
Die Geschäftsführerin fördert zum Beispiel die Gründung von Eltern-Initiativen und stellt ihnen Kita-Räume für die Betreuung in Randzeiten zur Verfügung – ein Modell, das die zuständigen Jugendämter genehmigen und unterstützen müssen. „Dadurch gewinnen die Eltern deutlich mehr zeitlichen Spielraum, als wenn alle ihre Kinder selbst betreuen müssten“, sagt sie. Die Nachfrage der Familien nach solchen Möglichkeiten sei bislang jedoch überschaubar. „Mein Eindruck ist: Viele Mütter, die ihre Kinder in unseren Kinderhäusern in Baden-Württemberg, Bayern und Nordrhein-Westfalen betreuen lassen, arbeiten in Teilzeit und können den Rückgang der Kita-Öffnungszeiten im Moment noch selbst oder mit ihrem familiären Netzwerk auffangen“, sagt die Geschäftsführerin. „Auch im Sinne einer besseren finanziellen Absicherung der Frauen im Alter würde ich es mir jedoch wünschen, dass es den Familien gelänge, Erwerbs- und Sorgearbeit gleichmäßiger aufzuteilen – zum Beispiel indem beide etwa 75 Prozent arbeiten und sich Bring- und Abholdienste zur und von der Kita aufteilen.“ Die veränderten Rahmenbedingungen bei der Kinderbetreuung könnten ein Impuls sein, die Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern neu auf die Agenda zu setzen und partnerschaftlich Lösungen zu entwickeln.
Im Moment bemühten sich Jugendämter und Träger mit einzelnen Maßnahmen darum, das vorhandene System mehr schlecht als recht aufrechtzuerhalten. „Ich plädiere dafür, Kinderbetreuung unter den gegebenen Rahmenbedingungen neu zu denken“, sagt Carola Kammerlander. Es sei nicht zielführend, es allein zur Aufgabe der Familien zu machen, mit den schleichenden Veränderungen klarzukommen. Es müsse eine breite Grundsatzdiskussion darüber geben, wie wir als Gesellschaft Kinderbetreuung künftig organisieren wollen. „Das Thema berührt viele Lebensbereiche und wirft zum Beispiel folgende Fragen auf: Wie können wir Beschäftigten Freiräume für Sorgearbeit bieten?, Wie müssen urbane Räume gestaltet sein, wenn Kinder künftig (wieder) mehr Zeit im Wohnumfeld verbringen?, Welche Personen könnten neben den Eltern Mitverantwortung für Kinder übernehmen und welcher Rahmen ist nötig, damit das zuverlässig funktioniert? Nur wenn wir diese Diskussion führen und die Gesamtzusammenhänge berücksichtigen, kommen wir zu tragfähigen Lösungen, die den Belangen aller Beteiligten gerecht werden.
Carola Kammerlander und ihr Team freuen sich darauf, mit Interessierten darüber zu debattieren.
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