Die Deadline für ein wichtiges Projekt rückt viel zu schnell näher, der Kollege ist mal wieder so richtig mies drauf und der Chef steht drängelnd in der Bürotür. Zuhause ist der Kühlschrank leer und der Müll müsste auch mal wieder runter gebracht werden. Das Leben von berufstätigen Menschen ist voll mit kleinen und großen Stressfaktoren. Auch berufstätige Eltern werden davon nicht verschont, doch bei ihnen kommen noch ein paar Kleinigkeiten obendrauf: Zum Beispiel ganze drei Wochen Kitaferien oder gar kein Betreuungsplatz, fiebernde Kinder und der ständige Druck aus dem Job.
Es ist eine ganze Menge, was auf berufstätige Mamas und Papas jeden Tag einstürmt und Achtsamkeit kann daran leider auch nichts ändern. Das ist zwar schade, aber kein Grund nicht trotzdem sofort damit anzufangen. Denn es gibt Stressfaktoren, auf die wir einen großen Einfluss haben und hier setzt Achtsamkeit an.
Raus Stress entsteht im hohen Maße durch belastende Gedanken über Vergangenes oder vermeintlich zukünftige Ereignisse bis hin zum sorgenvollen Gedankenkarussell. Praktizieren wir Achtsamkeit unterbrechen wir diesen Ablauf im Kopf – das entspannt und bringt die Freude zurück. Dazu richten wir unsere Aufmerksamkeit auf die Gedanken, Gefühle und Körperempfindungen, die im gegenwärtigen Moment da sind. Alles was sich zeigt, wird freundlich zur Kenntnis genommen, ganz egal, ob wir Freude oder Angst, Wohlbehagen oder Schmerz empfinden. Wir bewerten nicht. Wir bilden uns keine Meinung. Klassischerweise passiert dies auf dem Meditationskissen. Doch zum Glück von vielbeschäftigten Eltern ist das nicht zwingend notwendig.
Das Hier und Jetzt ist immer da und wenn wir wollen, können wir es jederzeit zur Kenntnis nehmen. Für Eltern, die sich keine 20 Minuten für eine Sitzmeditation freischaufeln können, bieten sich Momente im Alltag an, in denen sie nicht interagieren müssen: Unter der Dusche, in der U-Bahn, beim Einräumen des Geschirrspülers, beim Hochladen des Computers, beim Blumengießen oder abends im Kinderzimmer neben dem einschlafenden Kind. Die große Kunst ist, sich immer wieder daran zu erinnern. Dabei helfen Post-Itґs, wechselnde Zitate auf dem Schreibtisch, Reminder von Meditationsapps oder ein schöner, kleiner Stein in der Hosentasche.
Unser Gehirn verbraucht sehr viel Energie. Um ressourcenschonend zu arbeiten, greift es auf alte Erfahrungen zurück. Das führt dazu, dass wir aktuelle Situationen häufig verzerrt wahrnehmen und stressvoller erleben, als sie wirklich sind. Erschwerend kommt hinzu, dass unser Gehirn eine Vorliebe für das Negative hat. Immer vom Schlimmsten auszugehen - was in Zeiten von Säbelzahntigern überlebenswichtig war - führt in der modernen Lebens- und Arbeitswelt zu übertriebenen Pessimismus. Da unser Gehirn nicht zwischen Gedanken und Realität unterscheiden kann, erleben wir durch negative Gedanken genauso viel Stress wie beim Ereignis selbst. Mit Achtsamkeit setzen wir dem etwas entgegen, indem wir unsere Gedankenwelt überprüfen. Ist die misslungene Präsentation wirklich so peinlich und unverzeihlich, wie die Bilder in unserem Kopf es uns glauben machen wollen? Wird der Sohn mit Sicherheit ein unglücklicher Außenseiter, weil er sich nicht für Fußball und Pokemon GO interessiert? Bedeutet der Anpfiff des Chefs tatsächlich, dass ich morgen meinen Job verliere und meine Familie nicht mehr ernähren kann?
Wenn wir den Wahrheitsgehalt von stressigen Gedanken hinterfragen, können wir rasch erkennen, dass diese in den meisten Fällen nur eins sind: Gedanken, die vorbeiziehen. Und auch hier wieder liegt die größte Herausforderung darin, sich des Dramas im Kopf erst einmal bewusst zu werden und sich selbst daran zu erinnern, es diesmal mit Achtsamkeit zu probieren. Um den Wahrheitsgehalt belastender Gedanken zu überprüfen hat die Amerikanerin Byron Katie übrigens eine effektive Methode entwickelt: The Work, die Eltern auch zuhause anwenden können. Einfach Fragebogen runterladen und loslegen. Das Schreckensszenario im Kopf wird sofort kleiner.
Wenn uns vor lauter Erschöpfung die Nerven durchgegangen sind und wir unser Kind angebrüllt haben, reagieren wir mit Selbstvorwürfen. Wenn wir viel arbeiten, wenig Zeit mit unserem Kind verbringen konnten oder frisch getrennt sind, plagt uns das schlechte Gewissen. Solche Gefühle sind belastend, daher verdrängen wir sie. Lösen tun wir den Konflikt damit nicht. Wenn wir Achtsamkeit praktizieren, machen wir genau das Gegenteil. Wir wenden uns den unangenehmen Gefühlen zu, indem wir sie sehr genau wahrnehmen, sie uns erlauben und sie akzeptieren. Wir gehen mit diesen Gefühlen um, wie mit kleinen Kinder, die unsere volle Aufmerksamkeit für ihre Bedürfnisse brauchen, um sich beruhigen und weitermachen zu können. Und wie bei Kindern funktioniert es auch hier. Bringen wir uns selbst Akzeptanz und Selbstmitgefühl entgegen, entspannt sich die Situation und wir können fürs Erste leichter mit den Schwierigkeiten umgehen.
Raus aus dem Kopf, rein in den Körper: Machen Sie Atemübungen und Yoga, gehen Sie laufen. Singen Sie, fahren Sie mit dem Rad ins Büro oder graben Sie das Blumenbeet um. Gehen Sie so oft wie möglich mit Ihren Kindern in die Natur.
Fokus auf das Positive: Führen Sie ein Dankbarkeitstagebuch. Tempo rausnehmen: Gehen Sie zur Kita zu Fuß. Nehmen Sie sich ganz viel Zeit beim Zubereiten des Abendessens.
Das Leben vereinfachen: Stellen Sie jeden Termin auf den Prüfstand und streichen Sie rigoros. Es gibt viel mehr überflüssige Termine als Sie denken. Drosseln Sie Ihren Konsum.
Routine für Sicherheit und Entspannung: Pflegen Sie mit Ihren Kindern Rituale und einen gleichmäßigen Tagesablauf. Raum für Sie: Meditieren Sie bevor Ihr Kind wach ist oder wenn es eingeschlafen ist.
Raum für Ihr Kind: Geben Sie Ihrem Kind 20-30 Minuten pro Tag Ihre ungeteilte Aufmerksamkeit. Wenn Sie das nicht immer schaffen und sich dafür verurteilen, überprüfen Sie Ihre Gedanken und schenken Sie sich Mitgefühl.
Raum als Paar: Nehmen Sie sich einmal in der Woche Zeit für eine Achtsamkeitspaarübung. Dauert nur 20 Minuten, bringt Sie einander aber wieder nah und Sie ersparen sich so manche zeit- und kräfteraubende Streitereien.
Reize und Ablenkung reduzieren: Begrenzen Sie die Nutzung der digitalen Medien. Stellen Sie weniger dringende Benachrichtigungen beim Smartphone ab - insbesondere Gruppenbenachrichtigungen.
Üben. Üben. Üben: Achtsamkeit muss man lernen. Besuchen Sie einen Achtsamkeitskurs. Trainieren Sie Achtsamkeit wie einen Muskel. Je öfter Sie es machen, umso besser werden Sie.
Last but not least: Gehen Sie nicht davon aus, dass Achtsamkeit gleich gelingt. Ihr Gehirn ist es einfach nicht gewöhnt. Geben Sie trotzdem nicht auf. Es lohnt sich.
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