Sind Sie stresssüchtig

Wir alle wollen weniger Stress, aber vielleicht ist es ja eine Art Hass-Liebe oder gar eine Abhängigkeit, die uns am Stress festhalten lässt.

Dr. Ilona Bürgel
Diplom Psychologin

Weniger Stress. Einer der Lieblingsvorsätze der Deutschen. Aber vielleicht ist es ja auch eine Art Hass-Liebe oder gar eine Abhängigkeit, die uns am Stress festhalten lässt.

Rufen wir uns zunächst in Erinnerung, dass es positiven und negativen Stress gibt. Stress ist immer eine Anpassungsreaktion des Körpers auf sich verändernde Umstände. In den Ursprüngen der Menschheit ging es schlicht um das Überleben. Es überlebte nicht der Klügste oder Stärkste, sondern der, der sich am besten anpassen konnte, am stressresistentesten war. Schauen wir uns erfolgreiche Menschen heute an, dann zählen in einer sich immer schneller verändernden Welt mehr als Muskeln und der höchste IQ der Umgang mit Krisen, Flexibilität, Souveränität, also ebenfalls Stressresistenz, nur in einem anderen Kontext. Ständige Veränderungen und Anpassungsreaktionen sind für unsere Körperzellen normal, denn wir sind Teil der Natur. Dieser Gedanke wäre sicher manchmal hilfreich, wenn uns Veränderungen in unserem Leben bedrohlicher erscheinen, als sie tatsächlich sind. Je schneller wir reagieren, je schneller wir lernen, statt zu hadern, umso schneller geht es weiter und uns besser.


Das Stresshormon diktiert unser Leben

Das Stresshormon Cortisol wird vom Körper produziert, um die notwendigen Anpassungsreaktionen zu steuern. Wir atmen schneller, die Muskeln werden angespannt, Körper und Geist werden in Bruchteilen von Sekunden darauf vorbereitet, eine Veränderung zu bewältigen, einer Gefahr zu entkommen. Das ist die gute Seite, sonst wären wir nicht handlungsfähig und würden im übrigen auch morgens das Bett kaum verlassen. Die andere Seite der Medaille ist, dass Cortisol im Körper wie eine Droge wirkt und abhängig macht. Das Gehirn bevorzugt Bekanntes, selbst wenn es nachteilig für uns ist. Deshalb wiederholen wir auch Dinge und Situationen, die uns schaden. 


Der Teufelskreis ist schwer zu durchbrechen und irgendwann wird Stress als Normalzustand erlebt, den man immer wieder sucht. Das geschieht ganz unbewusst und automatisch. Wir schaffen Erlebnisse und Umstände, die uns stressen, weil das vertraut ist. Ein Drogenabhängiger weiß in der Regel, dass das, was er tut, schadet. Doch auf der Gehirnebene wird immer wieder auf die Botenstoffe und Hormone hingearbeitet, die vertraut sind. Leider gewöhnt sich das Gehirn an alles und der Wohlfühlbotenstoff Dopamin nutzt sich ab. Wir brauchen dann andere Reize oder eine größere Menge, um die gleiche Wirkung zu erzielen. Für den Stress heißt das eben leider auch mehr Anstrengung, mehr Stress. Die biochemische Reaktion auf Stress wird zur Gewohnheit. Woran erkennen Sie, dass Sie im negativen Stress gefangen sind? Natürlich merken Sie es irgendwann, dass Sie abgehetzt, mürrisch und unter Druck sind. Manchmal gewöhnen wir uns jedoch selbst daran.


Es gibt drei wichtige Merkmale, die sie erkennen können:

1. Sie handeln angstmotiviert

Hauptmotivation für Ihr Tun ist dann das Vermeiden oder die Reduktion des Angstgefühls. Sie wollen nicht auffallen, nichts falsch machen, niemanden enttäuschen, die Arbeit nicht verlieren oder den Partner. Angst ist immer ein schlechter Ratgeber, weil negative Emotionen unsere Denkfähigkeit einschränken.


2. Sie denken nur an sich

Angst und Stress führen dazu, dass wir unser Mitgefühl, unseren Respekt oder die Wertschätzung für andere Menschen verlieren. In anhaltenden oder extremen Stresssituationen werden die jüngeren Gehirnareale gehemmt und die älteren übernehmen die Regie. Dort geht es dann nur noch um Selbstverteidigung und überleben. „Ich will“ und „ich brauche“ werden zu unseren ständigen Begleitern. Nur unter normalen Umständen prüft unser Denkhirn ab, was unsere Entscheidungen und unser Verhalten für andere bedeuten.


3. Sie denken kurzfristig

Wenn Sie von einem Feuer zum nächsten springen und es zu löschen versuchen, ohne dabei an das große Ganze zu denken, sind Sie im Stress gefangen. Weitsicht und vorausschauendes Denken sind typisch menschliche Eigenschaften. Bei negativem Stress tauschen wir sie gegen den „Tunnelblick“. Dann haben wir unseren Fokus nicht mehr auf den Chancen und Möglichkeiten, sondern auf dem Problem. Ein gestresstes Gehirn tendiert dazu, die Probleme im Kopf noch schlimmer und größer zu machen, als sie in der Realität je sind.

Sollten Sie bei einem der drei Punkte einen Wiedererkennungseffekt spüren, ist es höchste Zeit zum Innehalten.


Die Praxisfragen 

Stellen Sie sich am Ende eines Tages diese Fragen:

Was war heute meine treibende Kraft? Angst oder Interesse?
Wie habe ich mich die meiste Zeit des Tages gefühlt, gestresst oder entspannt?
Wie oft hatte ich damit zu tun, Stress, Unsicherheit und Unruhe zu reduzieren?
Wie viele Entscheidungen habe ich bewusst, in Ruhe und konzentriert getroffen?
Bin ich über Warnzeichen meines Körpers wie Kopfweh, Verspannungen, Ohrensausen oder Durchfall hinweggegangen? Habe ich meine Kreativität eingesetzt?
Bin ich mit offenem Herzen auf andere zugegangen?


Hören Sie auf Ihr Herz

Erfreulicherweise gibt es auf der Körperebene einen einfachen Weg, raus aus dem Stress zu kommen. Zunächst, indem das Stresshormon Cortisol abgebaut wird. Dies gelingt am besten durch Schlaf, Bewegung und die Reduktion von Fernsehen und Computerzeiten, vor allem am Abend.

Oxytozin ist ein Hormon, das zu Wohlbefinden und Entspannung führt und damit den Einfluss des Stresshormons reduziert. Es wird nicht nur vom Gehirn, sondern vor allem vom Herzen produziert. In der Umgebung von Ruhe, Vertrauen, Dankbarkeit, Mitgefühl und Empathie hat Stress kaum eine Chance. Aus diesen Gefühlen heraus, die wir auch als Herzintelligenz bezeichnen können, handeln wir weitsichtig, klug und sozial.

Das können Sie für mehr Oxytozin tun:


1. Starten Sie den Tag mit Körperkontakt.

Mit einer bewussten Umarmung zu Hause oder des Lieblingskollegen. Einem Kuscheln mit den Kindern oder Streicheln der Katze. Einer Fußmassage, die Sie sich selbst geben.


2. Lächeln Sie öfter.

Es gibt immer einen Grund dafür und sei es nur, dass es Sie gibt. Die Forschung sagt, dass selbst unechtes Lächeln zu Glücksgefühlen führt.


3. Machen Sie sich schöne Gedanken

Das Gehirn kann nicht unterscheiden, ob Sie sich etwas lediglich vorstellen oder ob Sie es tatsächlich erleben. Es reagiert auf eine vorgestellte Freude ebenso wie auf eine erlebte. So trainieren Sportler ihre Technik und so können auch wir unser Wohlbefinden trainieren.


4. Legen Sie die Hand auf Ihr Herz

Diese Geste entspannt sofort und tut Kopf, Herz und Körper gut. Sie stellen eine Verbindung mit Ihrer Herzintelligenz her und der Stress wird abgebaut.

Stress ist wie eine Epidemie. Deshalb brauchen wir nicht nur individuelle, sondern auch kollektive Lösungen. Wir sind alle gefragt, Verantwortung für uns und die Menschen um uns zu übernehmen. Nur gemeinsam können wir den Stress reduzieren oder stoppen.

Bildnachweis: Pexels – Fauxels

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