Reinhard K. Sprenger ist vierfacher Vater und kennt die Herausforderungen des Familienalltags als erwerbstätiges Elternteil. Denn er ist auch Managementberater und einer der bedeutendsten Vordenker der Wirtschaft. Jetzt hat er ein Buch über "Elternjahre" geschrieben und plädiert darin dafür, das Elternwohl wieder in den Blick zu nehhmen. Wir haben uns mit ihm darüber unterhalten, wie das gelingen kann, wenn man Familie und Beruf unter einen Hut bringen muss.
Zunächst einmal können wir selbst entscheiden, ob wir uns den Ansprüchen anderer beugen. Wir müssen nicht idealisierten Erwartungen hinterherhecheln – weder den Erwartungen der Umwelt, der Kinder oder auch den eigenen an uns selbst. Wie wir mit unserer Lebenszeit umgehen, ist immer eine Frage der Prioritäten. Wenn wir etwas wirklich wollen, lässt sich das organisieren. Meistens fehlt es am wirklichen Wollen.
Das ist ein Fließgleichgewicht. Bis etwa 18 Monaten sind die Eltern vollumfänglich gefordert. Aber dann sollten wir uns Schritt für Schritt wieder selbst in den Mittelpunkt unseres Lebens stellen. Im Sinne von Paar-Zeit und von Ich-Zeit. Wenn wir «Nur-noch-Eltern» sind, wird uns unsere Partnerschaft kaum durchs Leben tragen.
Ein schlechtes Gewissen ist ein schlechter Ratgeber. Es resultiert aus völlig überrissenen Erziehungsmoden – bis vor 200 Jahren wuchsen Kinder überhaupt nicht bei den Eltern auf. Hinzu kommen innere Perfektionsansprüche und naive Ursache-Wirkungs-Vermutungen. Wir überschätzen als Eltern unseren erzieherischen Einfluss. Die Gene können wir ohnehin nicht verändern. Und wie das soziale Umfeld prägt, das entscheidet das Kind weitgehend selbst. Das Erziehungsgeschehen ist sehr komplex und dessen Erfolg kaum planbar. Wir sollten also gelassen bleiben.
Das Problem vieler Eltern ist, dass sie sowohl Erfolg wie Misserfolg ihrer Kinder sich selbst zuschreiben. Dieses Denken ist maßlos. Sowohl im Plus als Erfolgs-Anmaßung als auch im Minus als Misserfolgs-Anmaßung. Was uns nicht daran hindern sollte, «Gut-genug-Eltern» zu sein. Kein Kind hat etwas davon, wenn wir mit Schuld- oder Opfer-Gefühlen herumlaufen. Zum Beispiel, wenn wir «Ja» sagen und «Nein» meinen. Wenn wir Zeit mit dem Kind verbringen, aber «eigentlich» etwas anderes wollen. Dann wandern wir in den Eltern-Burnout. Schlecht für uns Eltern. Schlecht für das Kind. Denn jedes Kind hat ein Recht auf glückliche Eltern.
Wir Menschen handeln immer egoistisch, wir können gar nicht anders. Selbst wenn wir Menschen helfen. Etwas anderes ist es, rücksichtslos zu handeln, ins Extreme zu fallen. Dann muss man sich klar machen, dass dafür ein Preis fällig ist. Denn Kinder und Karriere in gleichem Maß haben zu wollen, den Preis nicht zahlen zu müssen, das ist nicht von dieser Welt. Wenn wir also unser Kind nicht vernachlässigen und doch mit Haut und Haaren in unserem Job aufgehen, dann haben wir das so entschieden, dann sollte man uns nicht zu therapieren versuchen.
Eltern sind nur ein Teil des Erziehungsgeflechts. Da laufen viele Einflüsse zusammen: Kindergarten und Schule, Großeltern, Geschwister, Sporttrainer, Musiklehrer, manchmal Pfarrer, der erste Ausbildungsleiter, Influencer auf den sozialen Medien. Im Unterschied zu uns Eltern haben etliche dieser miterziehenden Einflüsse gar nicht die Absicht, das Kind zu erziehen. Sie prägen es dennoch. Deshalb funktioniert Erziehung als elternzentriertes Modell nicht – jedenfalls nicht in einem starken Sinne von Ursache und Wirkung.
Ist das zu bedauern? Nein, darüber dürfen wir eher glücklich sein. Wenn viele miterziehen, gleicht das ja mögliche Übertreibungen oder Defizite aus. Diese Erkenntnis sollte etwas Schwere aus unseren Elternjahren nehmen.
Kurze und aktive Zuwendung zum Kind ist besser als nichts. Der Fehler dabei ist: Die Eltern bestimmen, wann sie Zeit für das Kind haben. Aber vielleicht hat das Kind gerade keine Zeit für die Eltern. Denn das Kind braucht Eltern – nicht umgekehrt. Eltern, die ansprechbar sind. Das Kind braucht die Eltern gleichsam als passives Hintergrundrauschen, nicht permanente Aufmerksamkeit. Studien wollen sogar nachgewiesen haben, dass es besser sei, mehrmals am Tag kurz mit Kindern Kontakt zu haben, als alles auf eine geballte Stunde am Abend zu verschieben.
Ach, ich mag den Begriff «gute Erziehung» nicht besonders. Er orientiert sich zu sehr an fremdgesetzten Standards. Wir machen ohnehin nur viel falsch, wenn wir zu viel richtig machen wollen. Wir sollten deshalb so erziehen, wie es zu uns passt. Gut genug ist perfekt.
Hat die Erziehung der Mutter oder des Vaters oder beide Elternteile versagt, wenn der Sohn im Alkoholismus oder die Tochter auf der Straße landet?
Wie schon oben angedeutet: Das sind naive Kausalitätsvermutungen. Die Einflüsse, die in einem Kind zusammenwirken, sind so komplex, dass eine lineare Wenn-dann-Folgerung hochspekulativ ist. Natürlich, der Einfluss der Eltern ist gewichtig – aber nur einer unter vielen.
In einem strengen Sinne können wir das nicht wissen. Bestenfalls können wir Hypothesen bilden, spielerisch damit umgehen und vielleicht finden, was wirkt oder passt. Wir können unserem Kind einen nährstoffreichen Raum bieten und ihm Zeit für seine Entfaltung lassen. Wenn es also überhaupt so etwas wie «das Beste für das Kind» gibt, dann sollten wir kein «positives» Ziel zu erreichen versuchen. Keinen Endzustand erreichen, keinem Wunschbild folgen. Sondern das eindeutig Schädliche vermeiden. Wir sollten uns entspannen, weil eine zurückhaltende Erziehung das Richtige ist. Für das Kind. Vor allem aber für uns Eltern. Dieser Punkt ist wichtig. Die meisten Erziehungsratgeber blicken starr auf das Kind. Die Eltern fallen gleichsam aus der Sichtbarkeit. Vor lauter Kindeswohl wird vergessen, dass es auch ein Elternwohl gibt. Das scheint mir ein Grund dafür zu sein, dass die kindzentrierten Konzepte oft zu kurz greifen.
Das Kind dient heute oft der elterlichen Selbstdarstellung. Es dient der Arbeit am sozialen Status, es wird zur Ego-Prothese. Wie soll man es sonst verstehen, wenn Eltern ihr Kind auf Teufel-komm-raus ins Gymnasium prügeln? Manchen Eltern ist es auch überhaupt nicht peinlich, fortwährend Bilder ihrer Kleinen auf Facebook oder Instagram zu posten. Sollten wir zögern zu sagen, dass diese Eltern ihr Kind ausbeuten? Wir dürfen jedenfalls zweifeln, ob die vielen förderungsverbeulten Kinder später ein gelingendes Leben führen. Denn das Leben ist dann nicht mehr getragen von Gegenwart, Leichtigkeit und Humor. Sondern von Zukunftsschwere. Familien sind ja oft Trainingslager für kindlichen Steigerungsstress. Mit traurigen Nebeneffekten: Wir bringen das Kind um seine Kindheit. Und uns selbst um wunderbare Elternjahre.
Über den Autor:
Reinhard K. Sprenger, geboren 1953 in Essen, hat in Bochum Geschichte, Philosophie, Psychologie, Betriebswirtschaft und Sport studiert. Als Deutschlands profiliertester Managementberater und einer der bedeutendsten Vordenker der Wirtschaft berät Reinhard K. Sprenger alle wichtigen Dax-100-Unternehmen. Seine Bücher wurden allesamt zu Bestsellern, sind in viele Sprachen übersetzt und haben die Wirklichkeit in den Unternehmen in 30 Jahren von Grund auf verändert. Als vierfacher Vater weiß er, was Eltern umtreibt und kennt die Herausforderungen des Familienalltags. Zuletzt sind von ihm bei DVA erschienen »Das anständige Unternehmen« (2015), »Radikal digital« (2018) und »Magie des Konflikts« (2020).
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